Wer hat Angst vor Kaspers Freunden?

Aus: *kinder*, Beilage der jW vom 28.05.2008
Flugstunden auf dem Drachenrücken: In einem Berliner Problemkiez werden Kinder zu Künstlern

Conny Gellrich

In den Tiefen von Berlin-Neukölln schart ein Pärchen namens Kasper und Hexe eine stetig wachsende Gruppe junger Künstler um sich. »Die hier ausgestellten Sachen und Engel können Sie kaufen«, steht im Schaufenster. Das bezieht sich auf bunte Möbel unklaren Zwecks und diverse kleine Engelchen, die von der Decke baumeln. Alles selbstgemacht von jemandem aus dem Kiez und beherbergt von K&K VolkArt.

K&K VolkArt fungiert in dem Viertel rund um den Böhmischen Platz als Netzwerker, Gerüchteküche, Plauderstube, Arbeitgeber, Partyveranstalter etc. Hauptsächlich aber handelt es sich bei dem kleinen Schaufensterraum zwischen Bäckerei und Pizzeria um ein Puppen-und Knasttheater: K&Ksteht für »Knast und Kasper«.

Henriette Huppmann und Artur Albrecht, die gemeinsam K&K VolkArt bilden, machen seit 2003 Theater in den Berliner Justizvollzugsanstalten Lichtenberg und Neukölln mit den dort inhaftierten Frauen. Vor gut einem Jahr wollten sie außerdem ihr eigenes Kaspertheater eröffnen. In der JVA Neukölln werden 365 Tage im Jahr Schwibbögen für die Weihnachtszeit hergestellt. Eine etwas monotone Angelegenheit. Und Huppmann und Albrecht hatten keine Puppen für ihr Puppentheater. Also haben sich die gefangenen Frauen eine Schwibbögen-Pause gegönnt, um fast 30 Puppen für K&K VolkArt anzufertigen.

Im März 2007 traf dann Kasper am Böhmischen Platz ein. Gemeinsam mit der Hexe. Albrecht spielt den Kasper, Huppmann die Hexe. Es ist ein bißchen wie früher bei den Harlekin-Darstellern der Commedia dell Arte: Der Kasper schlechthin existiert nicht. Statt dessen entwickeln die beiden Puppenspieler ihre eigenen Figuren. Die haben dann etwas von dem ihnen klassisch zugesprochenem Wesen, aber sie tragen auch Züge der Menschen, die sie spielen, und zwar mit der Hand. Den eigenen Kasper zu finden ist ein langer Prozeß, der nicht darauf ausgelegt ist, abgeschlossen zu werden.

Und die ortsansässigen Kinder wiederum spielen die Kinder. Hauptsächlich nämlich entwickelt K&K VolkArt seine Stücke mit den Kindern aus den umliegenden Kindergärten. »Ich bin mein Kiez«, heißt das Projekt, bei dem Albrecht und Huppmann einmal die Woche in Kindergärten gehen, um Stücke zu finden. Momentan arbeiten sie mit sechs Kitas, drei privaten und drei staatlichen, zusammen.

Kasper muß ziemlich tapfer sein, wenn er das erste Mal in eine Kita geht. Der Kampf gegen Gewalt auf den Straßen, in den Familien, in den Schulen, dieser Kampf, so denken die beiden Puppenspieler, wird inzwischen in den Kindergärten ausgetragen. Da wird er gewonnen oder verloren. Die beiden Theatermacher, die nicht die geringste pädagogische Ausbildung haben, waren erstaunt über die enorme Gewaltbereitschaft der Fünf-, Sechsjährigen in ihrem Kiez. Viele haben große Sprachschwierigkeiten (egal, ob sie aus Familien mit dem berühmten Migrationshintergrund kommen oder nicht), sind motorisch nicht auf dem Stand, den sie in ihrem Alter haben sollten. Dann bleibt die Faust ihr einziges Kommunikationsmittel, und Kasper kriegt erst mal was in die Fresse, wenn er nicht aufpaßt.

Die Gleichzeitigkeit der Arbeit im Knast und der in den Kitas leuchtet ein, sagen Albrecht und Huppmann. Kasper und die Hexe verbringen also die erste Zeit der Kitaarbeit damit, um ihre körperliche Unversehrtheit und das Vertrauen der Kinder zu kämpfen. Viele von ihnen, so finden die beiden, bräuchten dringend Einzelbetreuung, aber daran ist natürlich nicht zu denken dabei könnte man sich die Sicherheitskräfte vor den Schulen, jede Menge Polizeieinsätze und JVA-Mitarbeiter sparen, würde man mehr Geld in die Betreuung im Kindergarten stecken, glauben sie. Es würde sich lohnen, denn hinter der Mauer aus Aggression steckt natürlich das große Reservoir der kindlichen Phantasie und Spielfreude. Die nutzen Albrecht und Huppmann, um ein Thema herauszuschälen, Figuren zu schaffen und anschließend einen Plot.

Die ersten beiden Stücke, »Verloren im Weltraum« und »Sonne, liebe Sonne« wurden bereits aufgeführt. Das letztere Stück handelt vom Frühling, der kommt und mit ihm die Vögel. Die Kinder tragen Vogelkostüme und flattern zwitschernd und singend durch das Puppentheater. Ein ziemlich cooler Sechsjähriger, auf dessen Schultern jetzt schon bleischwer die Pflicht lastet, ein richtiger Mann sein zu müssen, weigerte sich, die Drossel zu geben. Also ließen ihn die Theatermacher Flugstunden auf einem imaginären Drachenrücken nehmen. Dadurch hat er sich so an das Leben in der Luft gewöhnt, daß er jetzt gerne im Drossel-Outfit piepend zwischen den anderen Kindern herumschwirrt.

Früher oder später mögen auch die aggressivsten Kinder Kasper und Hexe. Die Hexe sogar, damit muß Kasper sich abfinden, ganz besonders. Huppmann findet, es sei an der Zeit, statt Kaspertheater Hexentheater zu machen.

K&K VolkArt, Böhmische Straße 46, 12055 Berlin
www.volkart.pachali.net


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